Im Moment sein
Wissen Sie noch, wie Ihr Kaffee heute Morgen genau geschmeckt hat oder sich das Wasser Ihrer Dusche angefühlt hat? In unserem hektischen Alltag vergessen wir zwischendurch, dass es ganz wichtig ist, immer wieder mal im Moment zu sein. Meistens sind wir dem Leben immer einen Schritt voraus: beim Kaffee sind wir gedanklich schon im ersten Meeting, beim Lunch denken wir daran, dass wir noch einen Handwerker organisieren müssen usw. Das ist schade, denn das im Hier- und Jetzt-Sein hat sehr viele Vorteile. Unter anderem macht es uns effizienter und zufriedener.
Vielleicht denken Sie jetzt nach dieser Einführung: ja, klar, es wäre schön, den ganzen Tag faul rumzuliegen und den Vögeln zuzuschauen – aber dafür habe ich doch keine Zeit! Es geht mir nicht darum, zur Faulheit aufzurufen. Im Moment sein heisst etwas Anderes: vom gedanklichen Autopiloten in die bewusste Wahrnehmung umzuschalten. Was mache ich gerade? Wie mache ich es? Und wie fühle ich mich dabei? Und wichtig: einfach wahrzunehmen, ohne zu werten.
Es bringt nichts, sich gedanklich in der Vergangenheit zu befinden und zu bereuen: „hätte ich doch…“ oder „wieso habe ich nicht…“. Ändern können Sie ja eh nichts mehr. Aber genauso wenig bringt es, sich dauernd in die Zukunft zu versetzen und sich z.B. Sorgen zu machen, was noch alles passieren könnte, wenn… Fakt ist, meistens treffen diese Worst-Case-Szenarien gar nicht ein. Wieso es gar nichts bringt, sich Sorgen zu machen, zeigt uns der indische Mönch Gaur Gopal in seinem super kurzen, aber umso genialeren Video „Why worry?“: https://www.youtube.com/watch?v=8neMEh72fgY. Noch Fragen???
Leistungsfähiger und glücklicher
Oft schätzen wir gar nicht, was wir aktuell haben (mehr dazu unter https://www.stressandbalance.ch/2019/07/02/ist-das-glas-halb-leer-oder-halb-voll/), und verschieben das Glücklichsein auf später. Wenn ich die Beförderung bekommen habe, dann… Wenn ich meinen Traumpartner gefunden habe, dann… Doch das ist eine Illusion, denn „der einzige Zeitpunkt, an dem das Leben stattfindet, ist das Hier und Jetzt. Auch in der Zukunft gibt es nur ein Jetzt“ (www.dubistgenug.de). Ein Ziel zu haben ist, ist sinnvoll. Aber wenn wir unseren gesamten Fokus darauf ausrichten, dieses Ziel zu erreichen und uns bei der Zielerreichung umgehend wieder ein neues Vorhaben vornehmen, sehen wir die Schönheiten auf dem Weg gar nicht und erfreuen uns auch nicht an unserem Erfolg. Leben Sie jetzt – morgen könnte es schon zu spät sein.
Was sind denn nun die Vorteile, wenn wir es schaffen, immer wieder mal im Moment zu sein:
- Die Forschung hat bewiesen, dass wir in einem präsenten Zustand effektiver, kreativer und leistungsfähiger sind. Grund: nachgewiesenermassen wandert unser Geist 50% unserer Wachzeit und führt uns überall dorthin, aber nur nicht dahin, wo wir aktuell sein wollen (der Buddhismus nennt das Affengeist). Wenn wir es aber schaffen, unsere Gedanken auf das Hier und Jetzt zu lenken, sind wir konzentrierter, effizienter und produktiver.
- Wenn wir unser Gedanken-Karussell von Bereuen über Vergangenes oder Sorgen über Zukünftiges stoppen können, sind wir gelassener und stressresistenter. Wir können leichter loslassen und besser mit schwierigen Situationen umgehen.
- Wenn wir uns weniger Sorgen machen, hat das auch einen ganz konkrete Auswirkung auf unseren Körper: so sinkt u.a. unser Blutdruck.
- Die Wissenschaft konnte auch nachweisen, dass Menschen, die den Augenblick geniessen können, besonders zufrieden sind mit ihrem Leben. Eigentlich logisch, oder?
- Wenn wir im Moment sind – also nicht gedanklich abschweifen –, nehmen wir auch unser Gegenüber besser wahr und sind dadurch einfühlsamer und empathischer.
Tipps
Wie kann man denn nun lernen, mehr im Hier und Jetzt zu sein? Hier ein paar Tipps:
- Zuerst zum „not to do“: versuchen Sie, nicht zu multitasken. Da das Gehirn nicht zwei Gedanken aufs Mal denken kann, heisst multitasken faktisch ganz schnell vom einen zum anderen zu switchen und wieder zurück. Abgesehen davon, dass man dann langsamer ist und mehr Fehler macht, führt Multitasken zu einer Reizüberflutung und zu Stress und macht Sie müde. Fokussieren Sie auf eine Tätigkeit, bis Sie sie beendet haben. Mehr zu diesem Thema: https://www.stressandbalance.ch/2019/01/29/fokus-ist-der-neue-intelligenz-quotient/.
- Seien Sie nicht in der Vergangenheit und grübeln oder bereuen. Und seien Sie nicht in der Zukunft und denken sich Worst-Case-Szenarien aus oder träumen davon, dass Ihre Situation sich bessern wird. Machen Sie auch nicht Andere für Ihre Situation verantwortlich und jammern darüber. Nehmen Sie heute Ihr Leben in die Hand und gestalten es proaktiv.
- Ganz einfach: atmen Sie bewusst. Beobachten Sie Ihren Atem, ohne ihn zu etwas zu zwingen. Er wird automatisch tiefer und länger werden.
- Machen Sie Atemübungen (mehr dazu unter: https://www.stressandbalance.ch/2017/05/02/mit-dem-atem-unsere-gesundheit-beeinflussen/) oder meditieren Sie.
- Sitzen Sie im Garten, auf dem Balkon, auf dem Sofa und machen einfach nichts, ausser dass Sie Ihre Umgebung ganz bewusst mit allen Sinnen wahrnehmen. Mehr dazu: https://www.stressandbalance.ch/2019/06/12/ein-lob-auf-die-langeweile/.
- Wenn Sie auf einem Stuhl sitzen, versuchen Sie, bewusst die Rückenlehne und die Sitzfläche zu spüren. Oder: sind Ihre Finger kalt oder warm? Gehen Sie wieder einmal barfuss und spüren die verschiedenen Materialien (Parkett, Steinboden, Beton, Gras usw.) auf Ihren Fusssohlen.
- Machen Sie einen sogenannten Bodyscan. Dafür spüren Sie ganz bewusst nach, wie sich Ihr Körper anfühlt. Beginnen Sie am Kopf und gehen von oben nach unten – ein Körperteil nach dem anderen. Wie fühlt sich Ihr Körper an? Haben Sie irgendwo Anspannungen?
- Tun Sie alltägliche Dinge bewusst, wie z.B. das Hände waschen, Zähne putzen usw. Achten Sie beim Duschen, wie sich das Wasser anhört, wenn es aus der Brause kommt – wie das Wasser auf Ihrer Haut perlt – welche Temperatur das Wasser hat – wie die Seife riecht usw.
- Essen Sie ein Dessert mit vollem Bewusstsein, mit allen Sinnen (also nicht herunterschlingen): wie riecht es? Wie schmeckt es? Lassen Sie es auf der Zunge richtig vergehen.
- Geniessen Sie Kleinigkeiten, wie z.B. das Lachen eines Kindes. Kleine Kinder sind sowieso ein gutes Anschauungsbeispiel, z.B. wie sie voller Freude spielen und sich in ihrer eigenen Welt befinden. Oder schauen Sie sich einfach mal um, dort wo Sie gerade sind: hat es dort irgendetwas, das Ihnen Freude bereitet: ein Alltagsgegenstand auf dem Tisch, schön geformte Wolken, Blumen usw.
- Tun Sie Dinge, die Ihr inneres Kind wieder aufleben lassen: malen, singen, tanzen, rumblödeln usw. Denn dann vergessen Sie jegliches Zeitgefühl und sind im Moment. Und versuchen Sie sich ja nicht von Ihrem inneren Kritiker davon abzuhalten („das ist doch kindisch!“).
- Machen Sie einmal etwas ohne ein bestimmtes Ziel, z.B. einfach darauf los spazieren oder Musik hören.
- Wenn Ihr Gedanken-Karussell einfach nicht zu drehen aufhören will, halten Sie sich ein grosses rotes Stopp-Schild vor Ihr inneres Auge. Sie glauben es vielleicht nicht, aber das funktioniert!
- Starten Sie den Morgen nicht gleich voller Hektik. Nehmen Sie sich fünf Minuten Zeit, um sich zu fragen, wie Sie sich heute fühlen wollen und was Sie dafür tun müssen.
- Sparen Sie nie etwas für einen besonderen Moment auf. Streichen Sie „irgendwann“ und „eines Tages“ aus Ihrem Wortschatz. Verschieben Sie Ihre Träume nicht auf später (bis es dann zu spät ist…). Machen Sie es jetzt, was auch immer es ist!
Klar, niemand lebt immer im Moment – auch ich schaffe das nicht. Es geht darum, zu lernen, es immer häufiger und immer länger zu tun. Denn Aufmerksamkeit ist wie ein Muskel: man muss sie trainieren. Als letzte Gedankenanregung zum Thema noch ein tolles Zitat von Albert Einstein: „Geniesse deine Zeit, denn du lebst nur jetzt und heute. Morgen kannst du gestern nicht nachholen und später kommt früher als du denkst.“
© Claudia Kraaz