Ist das Glas halb voll oder halb leer?
Eine objektive Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Ihre Antwort sagt auch nichts über das Glas selber aus, sondern viel mehr über Ihre Einstellung. Der Mensch ist seit der Steinzeit grundsätzlich defizitorientiert. Damals war das lebenswichtig, um zu überleben. Heute schadet uns das mehr. Aber zum Glück lässt sich dies ändern. Denn ob wir optimistisch oder pessimistisch denken, hat einen grossen Einfluss auf unser Leben.
Wenn ich Sie bitten würde, den Satz „Die Welt ist voller…“ zu vervollständigen, was würden Sie wählen? Gemäss der inzwischen verstorbenen deutschen Management-Trainerin Vera Birkenbihl ist die meistgewählte Antwort auf diese Frage in Deutschland und der Schweiz: Idioten oder Probleme. Wir sehen die Welt also gar nicht wie Henri Matisse, der sagte: „Es gibt überall Blumen für den, der sie sehen will.“ Wieso sieht also ein Grossteil der Menschen mehr Probleme und Defizite als Chancen und Möglichkeiten?
Wenn wir Angst haben, dann löst das Gehirn eine Stressreaktion aus. Diese führt dazu, dass wir nur noch das eine Problem wahrnehmen, dass wir allzu stark fokussieren. Das mag sehr sinnvoll sein, wenn es in der Steinzeit darum ging, vor einem Säbelzahntiger zu fliehen oder ihn zu bekämpfen. Aber mit solchen Problemen müssen wir uns ja zum Glück in der modernen Welt nicht mehr herumschlagen. Doch wir reagieren immer noch gleich. Mit grossen negativen Folgen, auch gesundheitlichen.
Negative Gedanken machen krank
Eine Studie der Harvard T.H. Chan School of Public Health hat ergeben, dass optimistische Frauen ein rund 30% tieferes Risiko haben, an Krebs, einem Herzleiden, einem Schlaganfall oder anderen schweren medizinischen Leiden zu erkranken resp. daran zu sterben. Grund dafür ist, dass negative Gedanken eine bestimmte Region im Gehirn aktivieren: die Amygdala. Dort entstehen Gefühle wie Angst, Unbehagen usw. Menschen, bei denen sich die Amygdala nur langsam erholt, weil viele negative Gedanken dort ankommen, haben ein grösseres Risiko, ernsthaft zu erkranken. Kein Wunder sagte Albert Einstein: „Die einzigen wirklichen Feinde eines Menschen sind seine negativen Gedanken.“
Umgekehrt kann man sagen, dass gemässigter Optimismus (die realistische Form ohne künstliche Übertreibungen) widerstandsfähig macht. Der Psychiater Dennis Charney von der Mount Sinai School of Medicine in New York interviewte 750 Kriegsveteranen, die keine Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen entwickelt hatten – sich also belastbarer zeigten als ihre Kollegen. Er stellte fest, dass ihre häufigste Eigenschaft der Optimismus war. Optimisten geraten auch mal in eine schwierige Situation, aber sie versuchen, sie zu lösen, ihre Situation zu verbessern. Und wenn sie nicht lösbar ist, lernen sie schneller, die Realität zu akzeptieren und weiterzumachen. Sie sind also ausgeglichener und stressresistenter. Aber nicht nur das: Optimisten ernähren sich tendenziell auch gesünder und treiben mehr Sport.
Das Glück beginnt im Kopf
Vielleicht werden Sie jetzt sagen: ja, Recht hat sie schon, aber wie kann ich meine Einstellung ändern, wenn ich diese negative Grundeinstellung habe? Das Wichtigste zuerst: wir können unser Gehirn, das den negativen Autopiloten eingestellt hat, neu ausrichten. Wir können ungute Verhaltensmuster durch neue, bessere ersetzen. Wir können aus Fehlern oder Krisen lernen und mehr Gelassenheit entwickeln. Hier nun einige Tipps, wie Sie Ihr Gehirn „umprogrammieren“ können:
- Anstatt sich darauf zu konzentrieren, was schief läuft in Ihrem Leben, lenken Sie Ihre Gedanken auf das Gute, das Sie haben, und seien Sie dankbar dafür. Das löst tausende von biochemischen Prozesse aus, die dazu führen, dass Sie sich besser fühlen. Mehr zum Thema Dankbarkeit: https://www.stressandbalance.ch/2017/02/28/meine-visualisierte-dankbarkeit/.
- Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie ständig versagen, nichts auf die Reihe kriegen, erstellen Sie eine Liste von all den Dingen, die Sie schon erreicht haben (geschäftlich und privat). Und dann schreiben Sie für ein paar Wochen jeden Abend auf, was Sie gut gemacht haben an diesem Tag. Das wird Ihnen am Anfang vermutlich schwer fallen, aber bleiben Sie dran. Mit der Zeit erkennt Ihr Gehirn immer mehr Positives, und Ihr Selbstwert steigt.
- Achten Sie auf Ihre Sprache. Reden Sie nicht immer davon, was Sie NICHT können. Vermeiden Sie Worte, die Unsicherheit ausstrahlen, wie z.B. eher, vielleicht, mmh usw. Diese machen Sie auch unsicher.
- Das Gleiche gilt für die Körperhaltung. Stehen oder sitzen Sie aufrecht. Nehmen Sie eine Körperhaltung ein, die Sie stark macht – mit dem bekannten Power Posing. Mehr dazu: https://www.stressandbalance.ch/2017/11/14/haltung-beeinflusst-emotionen/.
- Visualisieren Sie mit möglichst vielen Details (wie in einem Film), den Weg zum Ziel, das Sie erreichen wollen, und auch wie Sie dieses Ziel erreichen. Ganz wichtig dabei: setzen Sie alle fünf Sinne ein und spüren Sie Emotionen, wie z.B. die Freude, wenn Sie an Ihrem Ziel ankommen. Mit dieser Methode arbeiten viele Spitzensportler oder auch Kampfpiloten, um auch in Extremsituationen ihre vollen mentalen und physischen Kräfte abrufen zu können.
- Arbeiten Sie mit positiven Affirmationen (auch genannt Mantras). Ändern Sie Selbstzweifel („Ich kann das eh nicht“) ab in positive Aussagen. Meine 9-jährige Tochter verwendet diese Methode jeweils vor ihren Mathe-Prüfungen: sie schreibt „ich schaffe das!“ auf ihr Prüfungsblatt. Seither erzielt sie deutlich bessere Resultate! Ganz nach dem Autobauer Henry Ford, der einmal gesagt hat: „Ob du denkst, du kannst es oder du kannst es nicht, du wirst auf jeden Fall Recht behalten.“
- Beschränken Sie Ihr Grübeln zeitlich, z.B. mit einem Wecker, wie der deutsche Zeitmanagement-Experte Burkhard Heidenberger anregt. Dann wenden Sie sich bewusst wieder positiven Gedanken zu.
- Wir Menschen haben rund 60‘000 Gedanken pro Tag (Heidenberger nennt unsere innere Stimme eine richtige Plaudertasche). Ein grosser Teil davon sind negative Gedanken, aber meistens sind wir uns deren gar nicht bewusst. Doch diese Gedanken beeinflussen uns in unseren Gefühlen und auch in unseren Taten. Achten Sie einmal bewusst darauf, was Sie an einem Tag so alles denken. Denn es braucht zuerst Bewusstsein, bevor man etwas verändern kann.
- Wenn Sie Angst vor etwas haben, schreiben Sie Ihre Ängste auf. Sie wirken dann viel weniger bedrohlich.
- Wenn Sie sich schlecht fühlen, weil etwas nicht geklappt hat oder Sie vielleicht sogar versagt haben, fragen Sie sich, welche Bedeutung dieses Erlebnis in einer Woche, in sechs Monaten und in einem Jahr noch hat. Meistens relativiert es sich dann.
- Ärgern Sie sich nicht über Dinge, die Sie nicht verändern können, sondern investieren Sie Ihre Energie in Themen, mit denen Sie etwas bewegen können. Mehr dazu: https://www.stressandbalance.ch/2016/02/09/mensch-aergere-dich-nicht/.
Entscheidend bei all diesen Methoden ist, dass Sie üben, üben, üben. Es braucht viel Disziplin und Hartnäckigkeit, bis das Gehirn begreift, dass es vom negativen in den positiven Modus wechseln soll. Beginnen Sie mit etwas Kleinem und steigern dann. Sie werden mit der Zeit einen deutlichen Effekt spüren: weniger Stress sowie mehr Selbstbewusstsein, Gelassenheit und Energie!
© Claudia Kraaz