Wenn gut nicht gut genug ist
Perfektionismus ist – gemäss meiner Coaching-Erfahrung – einer der Hauptgründe, wieso Menschen in Stress kommen. Wir wollen alles 1000% richtig machen. Aber was bringt uns das? Nicht viel. Es schadet uns sogar: wir brauchen viel zu viel Zeit für eine Sache und haben nicht genügend Zeit für andere Dinge. Perfektionisten haben auch Mühe, überhaupt etwas zu starten und zu entscheiden. Denn es könnte ja nicht perfekt sein…
Das Human Capital Care Magazin hat in einer Umfrage nach dem häufigsten Stress-Grund das gleiche festgestellt wie ich in meinen Coachings: die eigenen Ansprüche werden von 23% der Befragten als häufigster Stress-Faktor genannt. Klar hat der Chef auch seine Erwartungen und gibt einem Ziele vor. Aber wir setzen dann noch einen oben drauf und scheitern dann logischerweise immer wieder. Die Suche nach dem Perfekten ist „eine Jagd, die nie aufhört“, wie www.karrierebibel.de es so schön formuliert. Denn niemand wird je in allen Bereichen perfekt sein!!!
Wie kommt es dazu, dass wir uns also selbst sabotieren? Wieso ist gut nie gut genug? Damit Sie das besser verstehen, möchte ich Ihnen zuerst erläutern, was denn einen Perfektionisten „auszeichnet“:
- Für Perfektionisten gibt es immer einen Grund, warum etwas noch nicht gut genug ist, um es abzuschliessen. Sie brauchen also überdurchschnittlich viel Zeit für etwas.
- Ihnen fällt es auch schwer, Prioritäten zu setzen. Für sie hat alles höchste Priorität. Und sie planen intensiv und erstellen unzählige to-do-Listen – und haben umso weniger Zeit, sie abzuarbeiten…
- Perfektionisten können schwer Entscheidungen treffen. Denn die Folgen könnten ja nicht perfekt sein.
- Sie geben sich nicht nur extreme Mühe, alles sehr gut zu machen. Sie brauchen auch um jeden Preis Anerkennung dafür. Ihnen ist ausserordentlich wichtig, was andere Leute von ihnen denken.
- Weil sie ihre SEHR hohen Ziele selten erreichen, setzen sie sich unter enormen Erfolgsdruck und haben deshalb auch häufiger als der Durchschnittsmensch das Gefühl, gescheitert zu sein.
- Perfektionisten können nicht gut mit Kritik umgehen. Nachdem sie ja alles versucht haben, um keinen Fehler zu machen, kommt jemand und weist sie auf einen Fehler hin. Das führt zu Selbstvorwürfen und zum Versuch, nächstes Mal noch besser zu werden. Deshalb nehmen Perfektionisten auch alles persönlich. Konstruktives Feedback oder Scherze gibt es für sie nicht.
- Kein Wunder haben Perfektionisten auch Mühe mit Teamarbeit. Und sie verstehen auch nicht, wieso andere nicht so detailverliebt sind wie sie, und kontrollieren ihre Kollegen exzessiv. Beliebt sind sie also nicht wirklich.
- Perfektionisten leiden unter einem „Schwarz-Weiss-Denken“, wie Stephan Wiessler, per Eigendefinition „Experte für Selbstvertrauen“, sagt. Sie denken in Extremen: wenn etwas nicht perfekt ist, ist es gleich schlampig oder katastrophal. Etwas dazwischen gibt es für sie nicht.
- Sie mögen keine Spontaneität, Zwischenfälle und Planänderungen. Denn sonst könnten sie ja die Kontrolle verlieren.
- Perfektionisten legen ihren Fokus auf das Negative, auf Fehler und Schwächen – anstatt darauf, was sie gut können und was schon funktioniert. Sie schaffen es deshalb auch nicht, sich selbst ein echtes Lob zu zollen.
- Sie beurteilen sich selbst vor allem anhand ihrer Leistungen und gehen davon aus, dass ihr Gegenüber das auch tut. Sie haben den Eindruck, dass andere sie nicht mögen, wenn sie nichts Ausserordentliches leisten.
- Perfektionisten neigen zur Selbstausbeutung. Sie kennen keine Grenzen und schaden damit ihrer Gesundheit. Verschiedene Studien haben nachgewiesen, dass Perfektionisten ein erhöhtes Risiko haben, depressiv zu werden oder Angststörungen zu entwickeln.
Sie mögen jetzt zurecht sagen, dass ich hier ein extremes Bild zeichne. Aber sehr viele von uns haben einen vielleicht etwas abgeschwächten Hang zum Perfektionismus (wenn das für Perfektionisten überhaupt geht…).
Gut ist besser als perfekt
Es gibt zugegebenermassen Berufe, in denen „man es zu etwas bringen kann, wenn man ein absoluter Qualitätsfanatiker ist“, wie der Psychotherapeut Rolf Merkle zurecht bemerkt. Wenn wir in ein Flugzeug steigen oder uns operieren lassen, sind wir darauf angewiesen, dass möglichst keine Fehler passieren. Aber das gilt nicht für alle Berufe und schon gar nicht für unser Privatleben.
Was kann man denn nun konkret gegen diese Selbstausbeutung tun:
- Fragen Sie sich: ist es der Aufwand wert? Denn Perfektionismus muss man sich nämlich mit viel Zeit erkaufen. Nehmen Sie sich das Pareto-Prinzip zu Herzen: 20% Ihrer Zeit benötigen Sie, um 80% des Ergebnisses zu erzielen. Lohnen sich dann die 80% Aufwand, um die restlichen 20% zu schaffen? Ein perfektes Ergebnis (wenn es das überhaupt gibt) hat kaum je ein gutes Preis-/Leistungsverhältnis.
- Kommen Sie zum Abschluss. So unter dem Motto: lieber gut gemacht als perfekt gelassen. Der Theologe John Henry Newman hat schon im 19. Jahrundert dazu gesagt: „Ein Mensch würde nie dazu kommen, etwas zu tun, wenn er stets warten würde, bis er es so gut kann, dass niemand einen Fehler entdecken könnte.“
- Akzeptieren Sie Ihre Schwächen – jeder Mensch hat welche. Und lernen Sie, dass alle Fehler machen dürfen. Aus Fehlern kann man lernen. Und die Worst-Case-Szenarien, die sich Perfektionisten immer ausdenken (was Schlimmes passieren könnte, wenn sie einen Fehler machen), treten meistens gar nicht ein.
- Senken Sie bewusst Ihre Ansprüche. Putzen Sie nicht das ganze Haus, wenn Besuch kommt. Lassen Sie im Büro am Abend mal etwas liegen. Und unternehmen Sie auch Sachen, bei denen es nicht darum geht, immer effizient und effektiv zu sein – sondern die einfach nur Spass machen.
- Entscheiden Sie eine Sache, die keine allzu grosse Bedeutung hat, innerhalb eines vorher festgesetzten Zeitraums. Und dann steigern Sie sich bzgl. Entscheidungsschnelligkeit und Wichtigkeit des Entscheids.
- Fragen Sie sich, was Sie denken müssten, um lockerer mit Anforderungen umgehen zu können? Z.B. „Irren ist menschlich“ oder „der grösste Fehler ist, keinen Fehler machen zu wollen“. Oder Sie nehmen sich James Joyces Aussage zu Herzen: „Fehler sind das Tor zu neuen Entdeckungen.“
- Seien Sie sich bewusst, dass die meisten Menschen andere Sorgen haben, als sich mit Ihren Fehlern auseinanderzusetzen.
- Eigentlich ist es doch langweilig, makellos zu sein. Man hat ja dann gar keine Ecken und Kanten.
- Denken Sie an den weisen Spruch des Philosophen Denis Diderot: „Wenn alles in der Welt vortrefflich wäre, so gäbe es gar nichts Vortreffliches.“
- Geben Sie sich selber Anerkennung und feiern Sie Ihre Erfolge. Schreiben Sie z.B. jeden Abend auf, was Sie heute gut gemacht haben. Am Anfang wird Ihnen das schwer fallen, weil Sie vermutlich denken, dass Sie gar nichts wirklich gut gemacht haben. Aber bleiben Sie dran, und mit der Zeit wird Ihre tägliche Liste länger.
Es geht darum zu lernen, dass Sie in jeder Situation selber bewusst entscheiden können, wie viel Einsatz Sie leisten wollen und wann Sie sich sagen: jetzt reicht’s. Klar, schaffen Sie das nicht von heute auf morgen. Das ist ein schwieriger Prozess, aber er lohnt sich. Sie werden gelassener und souveräner. Viel Erfolg auf dem Weg zur Erkenntnis „gut ist gut genug“!
© Claudia Kraaz